Audiobiografie

Achtung!
neue Webseite:

http://erzähl-mal-audiobiografie.de

 

 

 

“In the end, we’ll all become stories.” — Margaret Atwood

Erzähl mal!

Meine Geschichte. Meine Stimme.
Mein ganz persönliches Hörbuch.

Storytelling in der audiobiografischen Arbeit

Jedes Leben ist individuell – Ihre persönliche (Audio)Biografie ist es auch,
genauso wie der Klang Ihrer Stimme.

Mit dem Projekt:

Meine Geschichte. Meine Stimme.
Mein ganz persönliches Hörbuch.

ermöglicht Ihnen Rilo Chmielorz (zertifizierte Audiobiografin)
die Produktion Ihres eigenen Hörbuchs.

Form und Umfang bestimmen Sie selber. Ergänzungen durch Musik
oder Zitate aus Fremdtexten lassen sich nach Wunsch einbauen.
Beraten von der erfahrenen Audiobiografin, finden Sie zu Ihrem ganz eigenen Ton für diese persönliche Lebenserzählung, mit der Sie Familie und Freunde überraschen würden. Runde Geburtstage, Jubiläen, Abschiede, es gibt so viele Anlässe, bei denen ein persönliches Hörbuch, als bleibendes Dokument der besonderen Art, seinen einmaligen Wert unter Beweis stellen kann.
Sie werden Zeitzeuge, indem Sie erinnernd und reflektierend Ihr eigenes, mit den Zeitläufen verwobenes Lebensmuster entdecken.

Wie „mein Hörbuch“ entsteht:
In einer kostenlosen ersten BERATUNG erklärt ihnen die Audiobiografin den Herstellungsprozess (Anzahl der Sitzungen und Vorbereitung, Festlegung des Ortes für die Aufnahmen, vorzugsweise in ihrem häuslichen Umfeld).
Ihre Wünsche und der Umfang bestimmen das Format und den Preis
(ab 4000 € für ein ca. vierstündiges Hörbuch, unterteilt in einzelne Kapitel). Das Hörbuch wird in einer schmucken keinen Holzkiste auf USB-Stick ausgeliefert.

MEIN GANZ PERSÖNLICHES HÖRBUCH
Ein Geschenk an Familie und Freunde.
Ein Geschenk der Familie an Sie.

Beispiel für eine in Kapitel unterteilte „Playlist“:

Rilo Chmielorz ist Klangkünstlerin (Preisträgerin des Deutschen Klangkunst Preis), Hörspiel- und Feature Autorin – und Regisseurin sowie zertifizierte Audiobiografin in Berlin.

rilochmielorz at gmail.com
+49 171 80 55 063

 

TEXT  zum Online-Kurs:

Wenn man versucht, das Wort knapp hinter dem Mund und vor dem Aussprechen zu fassen, dann sagt es:  im Anfang war das Wort und das Wort war im Sprecher und das Wort war der Sprecher.  (Vilém Flusser über „die Geste des Sprechens“)

In the end, we´ll all become stories.“  (Margret Atwood)

 

Die Geschichte meines Lebens

ist immer Teil der Geschichte

AUDIOBIOGRAFIEN und Story-Telling

als performative Strategie gegen das Vergessen

 

Diesen Text schreibe ich auf der Grundlage von Recherchen, die ich gemacht habe zur Vorbereitung eines Sommerkurses an der spanischen Universität Miguel Hernández für Kunststudenten und Kulturschaffende aus unterschiedlichen Bereichen unter dem Titel: 

Die Geschichte meines Lebens – ist immer Teil der Geschichte // AUDIOBIOGRAFIEN und Story-Telling als performative Strategie gegen das Vergessen. Neben den  konkreten Lebensgeschichten aus der audiobiografischen Praxis werde ich auch Beispiele aus der Literatur, Kunst und Musik vorstellen, in denen Geschichten durchaus auch abstrakt sein können. Dazu finden Sie die entsprechenden Links. Hören Sie sich die Audios an, sehen Sie sich die Videos an, denn erst mit diesen Beispielen kann dieser Text Sinn entfalten. Der Text hat fünf Teile und muss nicht unbedingt in einem Rutsch durchgelesen werden:

1.)  Erinnerung // mein persönlicher Werdegang von der Kunst zur Audiobiografie 

2.)  Erinnerung // Hören, Stimme, Sprechen 

3.)  Erinnerung // Vergessen 

4.)  Erinnerung // künstlerischer Kontext

5.)  Erinnerung // koloniales Erbe: The Struggle with Memory

 

1.)  Erinnerung // mein persönlicher Werdegang von der Kunst zur Audiobiografie 

Seit 2019 beschäftige ich mich mit Audiobiografien, habe ein Zertifikat als „Audiobiografin“ erworben, lausche den Lebensgeschichten meiner Klient*innen, zeichne sie auf und produziere aus dem Material ganz persönliche Hörbücher. 

Wie bin dazu gekommen?

Spuren der Erinnerung und damit eng verknüpft Lebensgeschichten sind mein großes Thema und haben mich in unterschiedlichen Berufsfeldern begleitet: 

– als Künstlerin 

– als Kunsttherapeutin 

– als Radio-Feature-Autorin und Produzentin 

– als Audiobiografin. 

Vor etwas mehr als dreißig Jahren,1993, habe ich in Alicante im Rahmen des Festival Internacional de Música Contemporánea im Historischen Stadt-Archiv eine interaktive Klanginstallation mit dem Titel „Palimpsest aus Wasser“ uraufgeführt. Sie finden Fotos und ein Soundfile zu dieser Arbeit sowie ausgewählte Seiten aus dem Katalog mit einem Text von Isabel Tejada auf meiner Webseite.

http://www.rilo-chmielorz.de/sound/installation/

Die Installation besteht aus sieben Stahlkästen, die einen doppelten Boden haben. Die obere Hälfte ist mit zu Eis gefrorenem Wasser gefüllt. In der unteren Hälfte ergibt sich ein Hohlraum und dort befinden sich Kontaktmikrofone.

In einer Performance kratze ich mit einem angespitzten Stahlstab, der wie ein riesiger Radierstichel aussieht, symbolische Zeichen in diese Eisflächen. Diese Kratzspuren waren und sind für mich (abstrakte) Spuren einer (affektiven) Erinnerung: mal zarte Linien, mal verzweifelnde Kreise, mal aggressive abgehackte Striche. Die dabei entstehenden Scratch-Sounds werden über die Mikrofone verstärkt, gehen durch die Effektgeräte des Tontechnikers und füllen den gesamten Raum akustisch über vier Lautsprecher. Man hört die Kratzer, die ich gerade fabriziere, aber man hört auch die Scratch-Sounds, die schon gekratzt wurden – sie scheinen im Raum zu schweben, denn ihr Hall und ihr Echo im Raum verklingen wie in Zeitlupe und werden stets von neuen gekratzten Sounds überlagert. So entsteht über die Dauer der ca. 20 minütigen Performance ein akustisches Palimpsest: eine Klangschicht legt sich auf die nächste. Die Idee des „PALIMPSEST“ ist gleichzeitig auch plastisch anwesend: die Kratzer im Eis verschwinden langsam im Tauprozess, aber das Wasser kann erneut zu Eis gefrieren und „neu beschrieben“ werden – ganz so wie das Schreibmaterial im Altertum, die Pergamente, die so kostbar waren, dass man sie mehrmals benutzen musste. Das Geschriebene wurde abgekratzt, damit das Pergament neu beschrieben werden konnte. Der abgekratzte Text ließ sich aber nie ganz entfernen und schimmerte durch das neu Geschriebene durch. Dass ich mir für diese Arbeit ausgerechnet den geschichtsträchtigen ehemaligen Palacio Maisonnave (17., 18. Jahrhundert) ausgesucht habe, der das Historische Archiv der Stadt Alicante beherbergt, ist ebenfalls Teil des Konzepts. 

PDF Katalog

1 Palimpsesto de Agua

Zwanzig Jahre später 2012 beziehe ich mich in einem Essay „Memoria: Hablar//Callar“ (Erinnerung: Sprechen//Schweigen) ausführlich auf diese Arbeit. Ausgangspunkt dieses Textes war das Symposium „Memoria Historica: Identidad y Trauma“, das damals von der Universität Alicante organisiert wurde. Der Text erschien in der Zeitschrift HUMBOLDT und in gekürzter Fassung auch in der Zeitschrift „Arte y Politicás de Identidad“ herausgegeben von der Universität Murcia, Bellas Artes.

https://revistas.um.es/reapi/issue/view/11441

PDF Humboldt (hrsg. Goethe Institut)

1 Humboldt 157 revista

Schauen Sie sich die Dokumente von „Palimpsest aus Wasser“ an und schauen Sie sich auf Youtube das Video einer anderen Klang-Performance an mit dem Titel „Denkübungen“, eine selbstironische Reflexion über das Denken ….. ein ewiges Palimpsest.

Palimpsest aus Wasser

https://www.uclm.es/-/media/Files/C01-Centros/cdce/Sonidos/RAS3/rilo.ashx?la=es

Sound. (9´17)

https://www.uclm.es/centros-investigacion/cdce/ras/ras-numero3/rilochmielorz

Denkübungen (8´00)

https://www.youtube.com/watch?v=vsV6W2ENTLs

Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir noch einmal auf das Konzept „Palimpsest“ zurückkommen.

 

Porträt-Feature und Audiobiografie:

Ich springe jetzt zeitlich ein bisschen und komme zu meiner Radio-Arbeit, insbesondere den Porträt-Features und Audiobiografien. Kurz zusammengefasst: die abstrakten Kratzspuren der Erinnerung haben mich allmählich zu konkreten Erinnerungsspuren von anderen Protagonisten/Protagonistinnen geführt. 

Besonders in den audiobiografischen Produktionen zeigt sich, wie das individuelle Leben über sich hinausweist und jede Biografie auch gleichzeitig Zeitzeugenschaft ablegt. Insofern ist eine Audiobiografie als persönliches Hörbuch ein Dokument gegen das Vergessen. Es ist ein Dokument von unschätzbarem Wert für die Familie, Freunde und für die nachfolgenden Generationen.

Wie Margret Atwood sagt: „In the end, we’ll all become stories.“  Am Ende sind wir Geschichten, Stories. Und Geschichten wollen und sollen erzählt werden. Durch unsere Geschichte und die Geschichten der anderen erfahren wir, wer wir sind. Es sind die Geschichten, die unsere fragile Identität zusammenhalten. 

Als ich noch ein kleines Mädchen war, erzählte mir meine Oma Geschichten von früher und ich lauschte ihr stets gebannt. Beim nächsten Besuch war klar: „Oma, erzähl mal von früher!“ Oma war eine gute Erzählerin. An einige Geschichten kann ich mich sogar noch erinnern, aber den Klang ihrer Stimme erinnere ich schon lange nicht mehr. Das ist nicht verwunderlich: tatsächlich ist es so, dass man zu allererst die Stimme eines geliebten Menschen vergisst, der von einem gegangen ist. Damals hatte ich noch kein Aufnahmegerät. So ging mir die Stimme meiner Oma verloren.

Im Gegensatz zu einer schriftlich verfassten Biografie liegt uns in der Audiobiografie die aufgezeichnete Lebensgeschichte als eine – in der Originalstimme verfassten – Hör-Version/Hör-Buch vor. Im Radio-Feature zeichnet man die Geschichten der Protagonisten in O-Tönen auf – d.h. im Original-Ton. Das gleiche gilt für die Audiobiografie: der Protagonist erzählt selbst. Das Konvolut seiner Lebenserzählung wird in Kapitel strukturiert, mit Musik angereichert, hier und da auch mit dokumentarischen Zitaten. In einer Play-List kann man einzelne Kapitel aussuchen und anwählen. Es ist nicht notwendigerweise so, dass in der Audiobiografie eine Lebensgeschichte chronologisch erzählt wird, vielmehr hat es sich in der Arbeit mit den Klienten gezeigt, dass viele Lebensgeschichten mäandernd erzählt werden. Ein wirkliches Hör-Buch ist es eigentlich auch nicht, denn das klassische Hörbuch verlangt eine schriftliche Vorlage. Eine schriftliche Vorlage aber ist gerade bei den Aufnahmen für eine Audiobiografie auf keinen Fall vorgesehen, denn es geht ja um das unmittelbare Erzählen und nicht um das Vorlesen eines Manuskripts. Hören Sie sich die kurze Soundcollage auf der ersten Seite meiner Homepage an, um einen Eindruck zu gewinnen:

http://erzähl-mal-audiobiografie.de

Soundcollage

 

2.)  Erinnerung // Hören, Stimme, Sprechen 

 Bevor wir zu den Geschichten selbst – also zu den Inhalten der Lebensgeschichten – kommen, ihren künstlerisch-ästhetischen Manifestationen und uns dem großen Themenkomplex Erinnerung und Vergessen zuwenden,  werden wir uns im Folgenden zunächst mit den Phänomenen des Sprechens und Hörens beschäftigen – also jenseits der Semantik oder – vielleicht besser: vor der Semantik oder über der Semantik, denn da gibt es in jeder Stimme eine ganz individuelle „Tonspur“, eine „Klangspur“. Tatsächlich ist die menschliche Stimme einzigartig. Eine zweite Stimme, die in ihren feinen Mikro-Frequenzen ganz genauso klingt, gibt es nicht. (Mit der KI lässt sich natürlich eine zweite Stimme, eine Kopie, kreieren, aber das ist ein eigenes Thema und soll uns heute nicht beschäftigen).

Am Anfang war das Hören:

Schon als Embryo im Mutterleib hören wir. Wir haben die Ohren immer geöffnet – immer gespitzt. Sie lassen sich nicht verschließen ganz im Gegensatz zu den Augen, die wir einfach zu machen können. In der modernen Säuglingsforschung, die ihren Fokus auf die präverbale Entwicklung des Kleinkindes richtet, können wir nachlesen, dass akustische Zeichen intrauterin mit großer Genauigkeit wahrgenommen werden und dass nach der Geburt eine ausgeprägte Präferenz für die mütterliche Stimme besteht. Auch hat sich gezeigt, dass Mikrokörperbewegungen des Neugeborenen mit akustisch-affektiven Phänomenen der Erwachsenensprache – wie z.B. Sprachrhythmus und -melodie aufeinander abgestimmt sind. 

„Das Baby bewegt Rumpf, Beine oder Arme als Reaktion auf (akustisch-affektive) menschliche Äußerungen.“ 

(Martin Dornes: Der kompetente Säugling, S. 41, 1992)

Die Betonung liegt auf dem Adjektiv „affektiv“: in der sprachlichen Artikulation klingen Gefühle mit. Ist der Säugling dann in seiner weiteren Entwicklung in der Lage Hören und Sehen zu koordinieren, nimmt er affektive Synchronisierungsdifferenzen zwischen Gesehenem und Gehörtem sehr genau wahr. 

In einem Versuch wurden fünf bis sieben Monate alten Säuglingen zwei Filme nebeneinander gezeigt. Auf dem einen war ein fröhliches Gesicht und auf dem anderen ein ärgerliches Gesicht zu sehen. Dann wurde eine fröhliche, danach eine ärgerliche Stimme eingespielt (oder umgekehrt). Die Kinder sehen das Gesicht länger an, das zur Stimme passt. Sie nehmen die Ähnlichkeit oder Äquivalenz der affektiven Ausdrucksqualität wahr, die in zwei verschiedenen Sinnesmodalitäten dargeboten wird.“ 

(Martin Dornes: Der kompetente Säugling, S. 46, 1992)

Diese sogenannte kreuzmodale Wahrnehmung ist elementar für den Dialog mit der Bezugsperson und damit für die Entwicklung emotionaler und sozialer Kompetenzen. Es werden Affekte kommuniziert und es wird über Affekte kommuniziert: Affekte sind Medium. Dabei stellt sich im günstigsten Fall ein ganz feines „Tuning“ in einem präverbalen Dialog ein. Bei nicht angemessenen Affekten entsteht kein „Fein-Tuning“ und es kann in der Folge zu ernsten Entwicklungsstörungen kommen.

An diesem kleinen Exkurs in die Säuglingsforschung können wir erkennen, dass diese „Tonspur/Klangspur“ der menschlichen Stimme Kommunikation möglich macht sogar in einer Welt ohne Worte. Wie wichtig dieser Grundstein für die Sprachentwicklung ist, soll an dieser Stellen nicht unerwähnt bleiben. Ab dem ersten Lebensjahr beginnt das Kind symbolische Klänge zu erkennen und es fängt an mit seiner eigenen Stimme zu sprechen, seine Erfahrungen zu denken, einen Sinn in ihnen zu erspüren und so eine eigene Biographie zu konstruieren: es erlebt seine eigenen Geschichten um sie weiter zu erzählen.

Und das wird sich über das ganze Leben hinziehen: wir brauchen unsere Geschichten und die Geschichten der anderen um zu wissen, wer wir sind. Die Geschichten halten unsere fragile Identität zusammen.

Im Folgenden wollen wir uns nun näher befassen mit

Stimme und Sprechen:

Bei jedem Sprechakt wird unser Körper und seine elementare Motorik zum Stimmapparat: Gaumen, Zunge, Lippen werden so bewegt, dass die umgebende Luft die Stimmbänder in Schwingung versetzt und in den Höhlen der Gesichtsknochen, im Brustraum etc. resoniert. Dabei handelt es sich um ein unkontrolliertes, motorisches Ereignis, das eine unbewusste Spur des Körpers beim Sprechen offenbart. Der Körper zeigt sich in der Stimme und bildet unsere „Gestimmtheit“ ab und diese affektive Gestimmtheit wird – wie wir bereits gehört haben – schon im Säuglingsalter wahrgenommen. Halten wir noch einmal fest: die Stimme ist Teil des Körpers. Sie drückt nicht körperliche Verfassung aus, sondern ist Teil dieser Verfassung. 

Eine Stimme kann uns aus dem Tiefschlaf holen. Eine Stimme kann uns verzaubern. Eine Stimme kann uns verführen. Eine Stimme kann uns abschrecken und Angst machen. Aber eine Stimme kann (von KI einmal abgesehen) nicht neutral sein. Sie hat einen appellativen und affektiven Charakter und konstituiert eine Form von Zwischenmenschlichkeit: im günstigsten Fall hört der Andere zu und versteht den Sprechenden. Und da ist das „wie gesprochen wird“, also unsere „Klangspur“ von eindringlicher Natur.

Die Philosophin Sybille Krämer hat sich in ihrem Essay „Stimme, Sprache, Schrift“ mit der – wie sie es nennt – „Bildlichkeit der sprachlichen Medien“ beschäftigt. Sie beleuchtet das Verhältnis von Gesprochenem und Geschriebenen, um zu zeigen, das die Bedeutungshoheit der intellektuellen Reflexionsfähigkeit nicht allein am geschriebenen Wort klebt – wie es uns die abendländische Geistesgeschichte seit Jahrhunderten vorerzählt hat. 

Was ist nun unter dieser „Bildlichkeit“ zu verstehen: Sprachlichkeit – so Krämers These – kommt ohne Bildlichkeit nicht aus, d.h. das Sagen braucht das Zeigen – das Sagen offenbart sich. Und der verkörperten Sprache wohnt diese Bildkraft/diese Bildlichkeit implizit inne. An dieser Stelle möchte ich noch einmal an die bereits beschriebene „affektive Klangspur“ erinnern. 

Diskursives und Ikonisches spielen zusammen, es ist kein Wechselspiel. Dieses Ikonische, dieses Bildhafte ist genau dort in der „Tonspur/Klangspur“ der Stimme zu finden. Dabei ist dieses Bildhafte nicht als etwas Visuelles oder Optisches zu verstehen sondern als eine Form der nichtoptischen Ikonizität. D.h. Bilder bzw. Gefühlsbilder werden evoziert – aber eben nicht optisch, sondern:

1) im körperlichen Vollzug des Sprechens. Wir haben bereits gehört, dass unser Sprechen ein unkontrollierter körperlicher Vorgang ist und diese unbewusste „Klangspur“ des Körpers sich quasi durch den Körper offenbart;

2) durch den bereits erwähnten affektiven und appellativen Charakter. Jenseits des „was“ kommuniziert wird, ist der Ton einer Rede immer noch die nachhaltigste Weise eines bedeutungs- und machtvollen Sprechens. Es ist diese Eindringlichkeit der Stimme, die durchaus mit einer Aufdringlichkeit einher gehen und von Aggressivität und Imponiergehabe bestimmt sein kann. Denken wir an dieser Stelle etwa an die Reden von Adolf Hitler, Joseph Goebbels oder General Franco.

Die Stimme kann nicht neutral sein. Krämer schreibt dieser „Tonspur“ eine pathische bzw. physiognomische Dimension zu. Hier liegt das ikonische Potenzial: das Sagen zeigt sich – die „Tonspur“ ist eine Offenbarung des Gesagten;

3) kommen wir auf Semantizität und Reflexivität zu sprechen: die Stimme ist in der Lage feine Schattierungen der Rede zur Geltung zu bringen, eindringlich zu machen. Es sind also kognitive und epistemische Aspekte in der Lautlichkeit verankert. Traditionell wurden in der Unterscheidung von Oralität und Literalität die kognitiven und reflexiven Merkmale in erster Linie mit der Schrift assoziiert. „Mündlichkeit“ degenerierte in diesem Konzept zur – ich zitiere – „Sachverwalterin des Vordiskursiven und Vorrationalen“. In dieser Deutungshoheit spiegelt sich selbstredend auch ein „koloniales Konzept“ wider, eine vermeintlich eurozentristische Überlegenheit, die immer schon indigenen Gesellschaften mit „nur“ oralen Traditionen jedwede Reflexionsfähigkeit absprach. Folgen wir den Gedanken von Krämer weiter, erkennen wir aber, dass kognitive und reflexive Potentiale in der Sprachlichkeit gemeinsam zutage treten und zwar im Zusammenspiel – nicht im Wechselspiel eines entweder oders. Und darin ist selbstredend potentielle Erkenntnis begründet.

Wir können nicht nur die anderen hören, sondern auch uns selbst hören und das versetzt uns in die Lage anfängliche Intentionen des Gesprochenen nachträglich einzuordnen: Sich-selbst-sprechen-hören ist eine Differenzwahrnehmung. Wir nehmen wahr, was und wie wir etwas gesagt haben, hören uns selbst (zu) und können darüber nachdenken – wir können reflektieren.

Ich möchte an dieser Stelle auf das Eingangszitat von Vilém Flusser (Die Geste des Sprechens) verweisen, das dieses Zusammenwirken, das Krämer beschreibt, sehr gut zusammenfasst:

„Wenn man versucht, das Wort knapp hinter dem Mund und vor dem Aussprechen zu fassen, dann sagt es:  im Anfang war das Wort und das Wort war im Sprecher und das Wort war der Sprecher“. 

Das Sprechen und damit das Wort lassen sich nicht vom Körper trennen. Und dieses Wort durchbricht die Mauer des Schweigens, weil der Sprechende auf der Suche nach dem Anderen ist. Flusser fasst noch einmal zusammen:

„… und in diesem Sinne ist die Geste des Sprechens immer eine diskursive Geste…. Der Sprechende spricht nicht (einfach) in die Welt hinein, sondern er spricht über die Welt zu anderen. Sprechen ist der Versuch die Welt zu überspringen, um zum anderen zu kommen, aber so, dass dabei die Welt in den Sprung aufgenommen wird – (die Welt wird) eben besprochen.“

Wenn ein Zeitzeuge in seiner Audiobiografie erzählt, wie er oder sie als Kind von Gestapo-Männern abgeholt wurde und im Zuge der Sippenhaft in ein Kinderheim verschleppt wurde und einen neuen Namen bekam,  so hören wir jenseits der Gräueltaten des WAS erzählt wird auch das WIE. Der Schrecken der Welt, der hier aufgenommen ist/ „besprochen wird“, das Unverständnis als Kind, das Gefühl der Verlassenheit, des sich Selbst-Überlassen-Seins, der Willkür ausgesetzt zu sein, das alles hören wir mit, wenn der Zeitzeuge seine Tränen versucht herunter zu schlucken. 

Genauso hören wir das Glück und die unbeschreibliche Freude (der Welt) mit, wenn jemand in seiner Audiobiografie erzählt, wie er/sie seine große Lebensliebe wiedergefunden hat oder voller Stolz erzählt, dass man den Titel „hija de Fluxus“ (Fluxus-Tochter) bekam.

Wir hören eine emotionale Eindringlichkeit – wir erinnern später diese Geschichte, weil sie sich affektiv einschreibt in unsere Erinnerung.  Und damit kommen wir zum nächsten Themenkomplex:

3.)  Erinnerung // Vergessen 

damit werden wir uns im Folgenden beschäftigen – zwei Begriffe, die immer zusammen gehen. Dabei ist jetzt schon klar, dass wir nur Fragmente zusammentragen können, denn wir wissen, dass Erinnerung immer subjektiv ist und sich im Laufe der Zeit verändern kann, weil wir dynamische Wesen sind; wir wissen auch, dass Hinweise niemals vollständig und selbst Fakten niemals die ganze Wahrheit sein können, weil es schlicht DIE EINE GANZE WAHRHEIT gar nicht geben kann. Geschichten helfen Geschichte zu verstehen und unsere eigene Geschichte zu begreifen: wer sind wir?

Milan Kundera schreibt in seinem Buch vom „Lachen und Vergessen“:

„Will man Völker liquidieren, (…) nimmt man ihnen zuerst das Gedächtnis. Man vernichtet ihre Bücher, ihre Bildung, ihre Geschichte. Und irgendwer schreibt ihnen andere Bücher, gibt ihnen eine andere Bildung und erfindet ihnen eine neue Geschichte. Das Volk beginnt langsam zu vergessen, was es war und was es ist. Die Welt rundum vergisst es noch schneller…..Der Kampf des Menschen gegen die (politische) Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen.“ 

Unter „Gedächtnis“ möchte ich an dieser Stelle auch das Erinnerungsvermögen verstehen und unter „Geschichte“ auch immer die Summe aller individuellen Geschichten und eben nicht nicht ausschließlich die offizielle Geschichtsschreibung. Wir sehen also, dass Erinnerung und Vergessen eine gesellschaftspolitische Dimension haben und ideologisch aufgeladen sind.  Jacques Derrida fasst zusammen: 

„….. es gibt keine politische Macht ohne Kontrolle über Archive oder sogar über die Erinnerung“. 

Sobald eine neue Geschichte geschrieben ist, verbreitet wird und sich verankert, wird es sehr schwierig diesem „neuen Narrativ“ zu widersprechen. Die persönlichen Geschichten, die wir uns erzählen helfen uns zu erinnern, wie es einmal war. Nur wenn wir die Geschichten der Vergangenheit erinnern, können wir uns Zukunft vorstellen. Die Erinnerungen leben in uns. Sie haben sich im günstigsten Fall in unseren Körper eingeschrieben. 

An dieser Stelle möchte ich auf ein Beispiel verweisen, das zwar nicht von audiobiografischen Dokumenten handelt, sich aber ganz dezidiert „jener politischen Macht, die Erinnerung kontrolliert“ – in diesem Fall würde ich von „Erinnerung ausmerzen“ sprechen –  widersetzt hat:

Im Warschauer Ghetto bildete sich unter der Führung von Emanuel Ringelblum ein Untergrund-Archiv. Die Geschichte der Juden im Ghetto sollte nicht ausschließlich von den nationalsozialistischen Besatzern geschrieben werden. Die Arbeit an diesem geheimen Archiv gab allen Beteiligten wieder Lebensmut und vor allen Dingen Lebenssinn: es war – ich zitiere –  „Wichtiger als unser Leben“.

Um das Geschehen für die Mit- und Nachwelt zu dokumentieren, initiierte der Historiker Emanuel Ringelblum eine beispiellose Sammelaktion im Ghetto: das heute so genannte „Ringelblum-Archiv“. Es war das gemeinschaftliche Projekt einer im Geheimen arbeitenden Gruppe von jüdischen Akademiker*innen, Schriftsteller*innen und Aktivist*innen, die sich Oneg Shabbat (Freude am Sabbat) nannte. Deswegen ist das Archiv auch als „Oneg Shabbat-Archiv“ bekannt. Es ist ein einzigartiges und herausragendes Beispiel jüdischer Selbstbehauptung während der Shoah. Es ist ein Akt zivilen Widerstands und der erste Versuch, den von Deutschen initiierten Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas zeitgleich und unmittelbar zu dokumentieren und zu archivieren für die nachfolgenden Generationen. Gesammelt wurden schriftliche Dokumente aller Art, die das alltägliche Leben im Ghetto spiegelten: angefangen bei Tagebuchaufzeichnungen, über Eintrittskarten, Ankündigungen, Zeitungsartikeln, Flugblättern etc. Versteckt und vergraben wurden diese Dokumente in Blechkästen und großen Metallmilchkannen an geheimen Orten des Ghettos, die nur wenige Mitglieder des Oneg-Shabbats überhaupt kannten. In archäologischer Feinarbeit gelang es tatsächlich nach dem Ende des zweiten Weltkrieges in den Ruinen des Ghettos das Archiv zu bergen.

https://www.nsdoku.de/ringelblum-archiv

https://www.jhi.pl/en/oneg-shabbat/about-program

https://cbj.jhi.pl/documents/1025424/55/

Es gibt ein Buch von Samuel Kassow über das Ringelblum-Archiv, das bezeichnenderweise den Titel Who Will Write Our History? trägt.

An dieser Stelle möchte ich auf ein weiteres Beispiel aus Social Media aufmerksam machen: LIVE2TELL, das als fotografische Installation in New York stattfand. Die Fotografin Gillian Laub fotografierte in New York lebende Holocaust-Überlebende, jedes Foto wird von einem schriftlich Zitat des Überlebenden begleitet. Zeitgleich zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar ist dieses Projekt in New York als Installation realisiert worden: die Porträts wurden als überdimensionierte Dias – riesengroß – auf Hauswände und Brückenpfeiler projiziert.  M.E. findet dieses Projekt eine bemerkenswert gelungene Übertragung auf Instagram: Live2Tell.

https://www.instagram.com/live2tell/

https://www.nytimes.com/2024/01/27/nyregion/holocaust-survivor-portraits-gillian-laub.html

Schauen Sie sich auch die nächste Seite an, die ein Versuch darstellt persönliche Geschichten aus dem Spanischen Bürgerkrieg, als Audio-Files zu archivieren. Das Archiv ist noch nicht sehr umfangreich, aber interessant ist auch die Qualität der Audios: der Großvater hat seine Geschichten auf einem Kassetten-Recorder völlig analog aufgenommen. Vielleicht würde es lohnen, auch dieses Projekt für die Sozialen Medien weiterzudenken.

https://memoriasdelaguerracivil.es

https://www.memoriasdelaguerracivil.es/wp-content/uploads/mp3/cinta1cara1.mp3

https://www.memoriasdelaguerracivil.es/wp-content/uploads/mp3/cinta1cara1.mp3

Außerdem möchte ich auf die Arbeit der valencianischen Fotojournalistin Eva Máñez hinweisen – insbesondere ihre

Dokumentation über Paterna, eines der größten Massengräber aus der Zeit des Bürgerkriegs.

http://www.evamanez.es

https://www.guardianasdelamemoria.com

 

4.)  Erinnerung // künstlerischer Kontext

Im Folgenden wollen wir uns nun mit künstlerischen Arbeiten beschäftigen, in denen (biografische) Erinnerung im Fokus steht.

Wir wollen uns einem künstlerischen Beispiel aus der Literatur zuwenden, dass jenseits seiner geschrieben Form auch in zwei unterschiedlich Audioversionen vorliegt: „Je me souviens“ von Georges Perec. In der einen Version hören wir die Stimme des Schauspielers Sami Frey, aufgenommen während einer Bühnenperformance in Avignon. 

In der anderen Version spricht Georges Perec selbst. Georges Perec erinnert sich in Mini-Episoden an sein Leben, die er buchhalterisch durchnummeriert und die wie aphoristische Miniaturen erscheinen:

„ (1) Ich erinnere mich, dass Reda Caire im Kino an der Port de Saint-Cloud eine Attraktion war.“

„ (2) Ich erinnere mich, dass mein Onkel einen II CV mit dem Nummernschild 7070 RL2 hatte.“

„ (3) Ich erinnere mich an das Kino Les Agriculteurs, und an die Clubsessel im Caméra, und an die Sitze im Pantheón.“

„ (4) Ich erinnere mich an Lester Young im Club Saint-Germain; er hatte einen Anzug aus blauer Seide mit Innenfutter aus roter Seide an.“ 

„ (5) Ich erinnere mich an Ronconi, an Brambilla und an Jesus Moujica; und an Zapf, die ewige „rote Laterne“.

„ (6) ich erinnere mich, dass Art Tatum ein Stück Sweet Lorraine nannte, weil er während des zweiten Weltkrieges in Lothringen gewesen war.“

Perecs Erinnerungsminiaturen sind gespickt mit kultur/geschichtlichen Codes. Man könnte sagen, es geht um Mythen des Alltags (vgl. Roland Barthes), die in der Miniatur wieder lebendig werden. In Nummer 63 z.B. erinnert sich Perec an eine Werbung und die besondere Musik dieser Werbung: 

(63) Ich erinnere mich an Dop Dop Dop, nehmen Sie das Shampoo Dop.

Hier wird Wiedererkennung evoziert – sofern wir den Werbespot selbst kennen -, weil man die Melodie des Werbespots sofort im Ohr hat, wenn darauf angesprochen wird, obwohl wir die Musik gar nicht hören: Abwesendes wird somit präsent gehalten. 

Bevor wie uns den Audio-Beispielen zuwenden, möchte ich ganz kurz eine Anmerkung zu Georges Perec machen, denn möglicherweise kennen ihn nicht alle. Perec wurde 1936 in Paris geboren und starb schon 1982. Perecs Eltern waren polnischstämmige Juden, die sich in Paris niedergelassen hatten. Der Vater starb 1940 als Soldat an der Front, die Mutter wurde 1943 ins KZ Ausschwitz-Birkenau verschleppt. Perec wuchs bei einer Tante und einem Onkel auf, die in den unbesetzten Teil Frankreichs geflohen waren und ihn später auch adoptierten. Perec hat seine Eltern also kaum gekannt. Wir wissen natürlich nicht, ob dies der Grund dafür ist, dass in seinem Werk „Je me souviens“ seine Eltern keine Erwähnung finden. Seine Kindheit bearbeitet Perec in einem anderen Werk: „W ou le souvenir d´enfance“. Dies nur als Anmerkung.

Interessant bei den nun folgenden Hörbeispielen scheint mir der Vergleich der Stimmen und der unterschiedlichen Tonaufnahmen. Beide Versionen sind als Hörbücher gewissermaßen als Zweitverwertung entstanden.

Sami Frey

https://www.youtube.com/watch?v=leEojgjlfDE

Georges Perec (mit italienischen Untertitel)

https://www.youtube.com/watch?v=aFwhnFym8sc

Kommen wir zur ersten Version, die ursprünglich als Theaterinszenierung aus dem Jahr 1988 für das Festival in Avignon produziert wurde: Auf der Bühne sitzt der Schauspieler Sami Frey auf einem Fahrrad – wie im Fitness-Studio – und fährt unterschiedlich schnell, müht sich körperlich ab und gerät in ein atemloses Rezitieren und damit wird deutlich, dass „sich erinnern“ ein körperlicher Akt, eine physische Anstrengung ist.

Dieser Eindruck bleibt auch erhalten, wenn nur das „Audio“ rezipiert wird in der Hörbuch-Version: man hört das Surren des Fahrrads. Man muss nicht unbedingt erkennen, dass es sich um ein Fahrrad handelt, entscheidend ist vielmehr, dass dieses mechanische Geräusch an die Atemlosigkeit gekoppelt ist – und das hört man ohne Frage. In der technischen Reproduzierbarkeit bleibt das körperliche Erinnern erhalten: Die Ton-Aufnahme überdauert gewissermaßen die Existenz des Körpers.

Diese Audioversion der Theaterinszenierung wurde übrigens 1991 in der Reihe „bibliothèque de voix“ im Verlag „éditions des Femmes“ in Paris veröffentlich. Das war damals der erste Hörbuchverlag in Frankreich. 

Kommen wir zur zweiten Version: der Autor liest selbst. Die Stimme des Autors verleiht dem Text per se Bedeutung. Die Stimme ist persönlich und stellt für den Hörer eine Nähe zum Künstler her. Perec liest den Text – fast ein bisschen lakonisch, er verkörpert ihn nicht in der Weise wie Sami Frey es tut. Perecs Atem ist kaum hörbar, der akustische Raum ist flach, aber das Wort steht im Mittelpunkt und seine Stimme hat Gewicht. Natürlich ist dies auch eine Frage der Produktion bzw. der Regie und der Aufnahmetechnik – also der Mikrofonierung, der Mischung etc. Auf jeden Fall liegt in seiner Stimme sinnlicher Charme und – aus meiner Hörperspektive – durchaus eine erotische Komponente.

Wir erkennen hier nicht nur zwei unterschiedliche Stimmen sondern auch zwei unterschiedliche akustische Räume und erfahren, dass das Sinnpotential des Textes sich je spezifisch entfaltet. Beide Versionen bieten einen Sinn(lichkeits)gewinn und weisen somit über sich bzw. den reinen Text hinaus. Erinnern wir uns an dieser Stelle an „die nicht optische Bildlichkeit der Sprache“ von der Sybille Krämer spricht: das Sagen braucht das Zeigen, braucht Eindringlichkeit und die Stimme ist niemals neutral.

Neo Hülcker:

Das nächste Beispiel führt uns in den Bereich der zeitgenössischen Musik und Performance und ich möchte einen queeren Künstler aus Berlin vorstellen: Neo Hülcker, ein Künstler mit anthropologischem Blick auf die Welt. Neo hat eine Transition vollzogen und sich dann auch den neuen Namen „Neo“ gegeben. Dieser besondere Lebensabschnitt seiner Biografie wird „audio-biografisch“ –  abstrakt/musikalisch bearbeitet. Hören Sie hier einen Ausschnitt (oder lesen das Manuskript-Zitat) aus meiner Radiosendung „Das Ende des Normativen“, in der ich den Künstler Neo Hülcker porträtiert habe. In dem hier vorgestellten performativen Konzert-Projekt geht es um Neos „Stimmbruch“. Traditionell eher als eine peinliche Zeit für den Pubertierenden konnotiert.

Audiofile/Zitat Manuskript

2018 inszeniert Neo Hülcker im Ausland, Berlin, das Konzert für Stimme im Stimmbruch. Sechzehn Komponisten-Freunde schreiben Stücke für Neo´s „Stimme im Stimmbruch“. Der Künstler richtet den „anthropologischen Blick“ auf sich selbst. Selbstironisch. Grotesk. (Lachen) Neo Hülcker tritt hier als sein eigener Conférencier auf mit weißem Hemd und roter Fliege. Seine An-Moderation ist Teil der Performance und die Übergänge fließend. 

Neo´s voice „i am transitioning and i am on testosteron ….“

 (Lachen)

HA HA HA 

Neo 8:

also mit Peinlichkeit habe ich ja auch immer viel gearbeitet und das interessiert mich dann eigentlich gerade. Also das, was so unter den Tisch gekehrt wird oder wo man irgendwie so sagt, ja, da musst du lieber noch ein bisschen warten, bis sich die Stimme wieder gesetzt hat und so. Ich mag diesen Moment des Umbruchs und des nicht Kontrollierbaren und dann damit weiterzuarbeiten und da genau hinzugucken, was da vielleicht auch für eine Qualität dann drin steckt.

HA HA HA 

(lachen im Publikum)

Autorin:

Im günstigsten Fall führt Lachen zu Erkenntnis: Im Lachen erkennen wir, dass alles scheinbar Peinliche an einem Stimmbruch –– radikal grotesk wird, wenn Neo Hülcker das Phänomen in kompromissloser Offenheit – ästhetisch und tiefpersönlich – zu einem musikalischen Ereignis gedeihen läßt. 

Henry Wilde alias Antonia Baehr schreibt das Stück HA HA HA  für Neos Stimmbruch, in dem das Lachen selbst thematisiert wird. Die immer wieder gesprochen, gesungene Silbe „HA“ mutiert im Verlauf der Performance zu einem hystrionischen Lachanfall. Der Künstler warnt das Publikum: 

„vielleicht fange ich an zu hyperventilieren und falle in Ohnmacht – don´t call the ambulance …

HA HA HA 

Neo erzählt von kontinuierlichen Aufnahmen seit Januar …

Autorin:

Die zeitlich bereits zurückliegenden Aufnahmen, die zugespielt werden, erinnern an ein anthropologisches Palimpsest: das bereits Geschriebene – im vorliegenden Fall das bereits Gesungene – durchdringt immer wieder die gerade stattfindende musikalische Performance mit all seinen minimalen Veränderungen der Stimme im Stimmbruch. Neo Hülcker dirigiert sich dabei selbst: jedes HA kommt auf den Punkt! 

HA HA HA  > Ende mit Applaus

 

HA HA HA ist ein audio-biografisches Manifest geprägt von radikaler Offenheit – ästhetisch und persönlich. Darüber hinaus ist das Stück aber auch eine gesellschaftspolitische Aussage, ein subversives, biografisches Statement von Neo selbst über sein Queer-Sein. Ein Queer-Sein, das sich hier eben nicht bloß als Transvestiten-Show geriert. Die körperliche Veränderung durch die Einnahme von Hormonen wird auf hohem künstlerischen Niveau performativ manifestiert und überdauert körperlich seine Existenz. Ein persönlicher Moment in seinem Leben, der (sehr wahrscheinlich) so nie wiederkommt, der aber über das Persönliche hinaus auf den sozialpolitischen Kontext verweist und uns daran erinnert, dass es erst seit 1981 in Deutschland das sogenannte Transsexuellengesetz gibt und dass erst seit April 2024 das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft ist. Queerfeindliche Übergriffe durch Rechtsradikale sind selbst in Berlin keine Seltenheit.

Schauen Sie sich die Performance unter dem angegeben Link an. Das Stück HA HA HA beginnt bei Minute 22´39. Aber es lohnt das ganze Konzert anzuschauen.

https://www.neohuelcker.de

https://www.youtube.com/watch?v=2Z2icNg1h-A

 

Als nächstes möchte ich Concha Jerez vorstellen:

Die spanische Intermedia-Künstlerin Concha Jerez ist Jahrgang 1941. Erinnern wir uns kurz, dass Franco 1975 starb. Concha Jerez gilt als Vorreitern der konzeptuellen Kunst in Spanien, hat viele Preise erhalten u.a. 2015 den Premio Nacional de Artes Plásticas en España. Seit Jahrzehnten ist MEMORIA, Erinnerung, ein Thema, das ihre Installationen und Performances durchdringt. Es geht ihr dabei immer wieder um die Erinnerung an die Repressalien der Franco-Ära, eine Ära, die sie selbst gelebt hat und über die sie auf hohem künstlerischen Niveau Zeugnis ablegt.  

2020 hatte sie eine große (retrospektivische) Show im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía unter dem Titel: Que nos roban la memoria/our memory is being stolen.

Das Reina Sofía war bis 1995 ein Krankenhaus, dessen Anfänge bis ins 16. Jahrhundert reichen. Ich erwähne dies, weil man sich nun – falls man das Museum nicht kennt – ein sehr altes Gebäude vorstellen sollte mit besonders geräumigen Treppenhäusern, in denen Kranke auf Bahren transportiert werden mussten von einem Stockwerk zum anderen in einer Zeit ohne Aufzüge. Das alte Hauptgebäude verfügt über vier solcher Treppenhäuser, die normalerweise nicht zu den Ausstellungsflächen gehören. Concha Jerez hat – zum ersten Mal in der Geschichte des Museums – diese vier Treppenhäuser bespielt und differenziert inhaltlich und plastisch den komplexen Begriff „Erinnerung“ in vier Konzepten, verteilt auf die vier Treppenhäuser:

1) de Memoria Olvidada > vergessene Erinnerung

2) de Memoria Autocensurada > selbstzensierte Erinnerung 

3) de Memoria Escrita y Oralizada > schriftliche und mündliche Erinnerung

4) de Memoria Silenciada > (tot)geschwiegene Erinnerung

Schauen Sie sich das kurze Video an:

https://www.museoreinasofia.es/exposiciones/concha-jerez

Im folgenden zitiere ich aus Katalog. Im Einführungstext kommentiert Manuel Borja-Villel, der damalige Direktor des Reina Sofía, die vier Konzepte „MEMORIA“ von Concha Jerez:

https://www.museoreinasofia.es/publicaciones/concha-jerez

The first of these installations, MEMORIA  OLVIDADA (Forgotten Memory), is centered on the erasure of facts and truths from our collective memory. Concha Jerez´s works are always slow (Videos), and this one goes back to a starting point in two projects whose gestation commenced in the early 2000s: Que nos roban la Memoria (Our memory is being stolen) and Paisaje de Memoria (Landscape of Memory). It presents us on the one hand with a series of photographs on key events in the 20th-century history that have been excluded from hegemonic historical narratives, and on the other with a series of press obituaries on personalities who attracted some attention in their day but have now fallen into oblivion. The photographs and the obituaries are intervened by the artist until they are made almost illegible.

FOTOS:

4 1 memoria olvidada. concha jerez

Illegibility plays a fundamental role in the installation MEMORIA  AUTOCENSURADA (Self-censored Memory), which is deployed on Staircase F of the Sabatini-Building. On the first, second and third floor landings, we find a hospital chair and table, the latter totally covered in a translucent polyester that is also intervened with illegible self-censored writings. These objects are the „sculptural residue“ of a performance, INTERVALO UNICO DE MEMORIA AUTOCENSURADA (single interval of Self-censored memory), which Jerez carried out on the staircase before the opening of the exhibition. Pursuing the notion of self-censorship, only a partial or mutilated testimony of that performance is offered to us: its „sculptural residue“ (the table and the chairs), and a video recording of it projected onto the walls of the landing on each floor.

4 2 memoria autocensurada concha jerez

As a counterpoint, sound is the primary component of the third installation: MEMORIA  ESCRITA  Y  ORALIZADA (Written and oralized Memory). By means of a number of small devices with speakers that are hidden inside white pots arranged all along Staircase B, audio recordings are heard of poets, many of them dead, reading their own texts aloud. The result is a kind of polyglot sound labyrinth where, as Concha Jerez explains, the „interior time“ of the memory becomes „exterior time“. Completing the installation are a series of sculptural-objectual elements which she once again intervenes with self-censored illegible writing. They include, for example, four aluminium stepladders from an installation of 2001, JARDIN  DE PALABRAS  ESCRITAS (garden of written words). These ladders, then occupy the „between“ and „through“ of another set of steps in a suggestive metaphorical exercise that manifests her desire to anchor her reflection and production on the theme of memory, a constant of her career, to the memory of the very building that now houses the Museo Reina Sofía.

4 3 memoria escrita y oralizada concha jerez

The fourth and final installation she has conceived for the Sabatini-Building is MEMORIA  SILENCIADA ( silenced Memory), mentioned above, which revolves around the dreadful – and also forgotten and invisibilized – history of Francoist repression. We hear a series of audio recordings featuring the testimonies of people who suffered that repression directly. The recordings are played through electronic devices located inside several bird-cages. At the same time four silent videos are projected with images of different places in Madrid connected with Francoist repression, among them the now demolished Penitentiary of Carabanchel, a place on which she had already worked in the project  PARENTESIS  DE  INTERFERENCIAS (Parenthesis of Interferences), and the former headquarter of the Directorate-General for Security in the Puerta del Sol, whose basements were often used as torture chambers. The installation includes an obituary, intervened by the artist, of José Chat Galante, an anti-Francoist activist who died las 29 March. A victim of that repression, he left ample testimonies of the tortures.

4 4 memoria silenciada concha jerez

Auch wenn jede einzelne Installation in einem separaten Treppenhaus stattfindet, bilden sie – aus meiner Perspektive – alle vier zusammen ein Palimpsest, das sich in unseren Köpfen vollzieht: mit all diesen visuellen und akustischen Überlagerungen, Doppelbelichtungen und Durchstreichungen: Que nos roban la Memoria.  Wir betreten das erste Treppenhaus und wenn wir in das zweite hineingehen, begleiten uns die Eindrücke aus dem ersten und im dritten die Bilder aus dem ersten und zweiten und im vierten Treppenhaus überlagern sich vier Bilder, Eindrücke und Stimmen, die eindringlich zu uns gesprochen haben als Zeitzeugen. Neben den plastischen Elementen, den visuellen Dokumenten, den Videos, zeigt sich hier noch einmal sehr deutlich, dass es gerade die Ton-Aufnahmen der Protagonisten, der Dichter und Zeitzeugen, sind, die die Existenz des Körpers überdauern. 

Zwangsläufig macht uns Jerez zum Komplizen ihrer Erinnerungsarbeit, die gleichzeitig auch unsere eigene Erinnerungsarbeit ist: sie schickt uns vier mal vier Stockwerke rauf und wieder runter. Wir müssen uns einer physischen Anstrengung unterziehen um Erinnerungsarbeit zu leisten genauso wie Sami Frey auf dem Fahrrad.

In Jerez Arbeiten erleben wir eine eindringliche künstlerische Umsetzung der bereits erwähnten Zitate von Milan Kundera und Jacques Derrida:

„Der Kampf des Menschen gegen die (politische) Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen.“  Und der Kampf – die physische und psychologische Anstrengung – hört nie auf: der Kampf ist Performanz gegen das Vergessen.

„….. es gibt keine politische Macht ohne Kontrolle über Archive oder sogar über die Erinnerung“.

Jerez hält die Erinnerung lebendig mit allen ihr zur Verfügung stehenden Medien. Wenn wir das nächste mal an dem Gebäude der ehemaligen Dirección General de Seguridad an der Puerta del Sol vorbeikommen, werden wir uns – im günstigsten Fall – an seine beschämende Geschichte erinnern.

 

5.) Erinnerung // koloniales Erbe: The Struggle with Memory 

Zum Abschluss möchte ich auf den kolonialen Aspekt unseres Themas zu sprechen kommen, der bereits kurz im Abschnitt über die Reflexionen von Sybille Krämer zu Sprache und Stimme anklang: das eurozentristische Weltbild sprach indigenen Völkern mit ausschließlich oraler Tradition die Fähigkeit zur Reflexion ab. Ohne Schrift war aus eurozentristischer Perspektive intellektuelle Reflexion nicht möglich. Das trifft besonders auf den afrikanischen Kontinent zu. Mit dem Sklavenhandel nach Übersee, der kurz nach der Entdeckung der Neuen Welt einsetzte zu Beginn des 15. Jahrhunderts, und der europäischen Kolonialherrschaft ging eine Entwertung des präkolonialen Kultur-Erbes einher, die sich über Jahrhunderte hinzog. Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel lieferte noch in den 1830iger Jahren ein brauchbares Narrativ für diese koloniale Ideologie:  

„Das eigentliche Afrika (südlich der Sahara) hat kein eigenes geschichtliches Interesse“ und deswegen „kann eigentlich keine Geschichte stattfinden. Es sind Zufälligkeiten, Überraschungen, die aufeinander folgen. Es ist kein Zweck, es ist kein Staat da, den man verfolgen könnte, keine Subjektivität, sondern nur eine Reihe von Subjekten, …….“ 

Im folgenden beziehe ich mich auf ein zweiteiliges Ausstellungsprojekt „The Struggle with Memory“, das im März 2024 in Berlin im PalaisPopulaire/Deutsche Bank Collection zu Ende ging. Junge afrikanische und südamerikanische Künstler*innen „kämpfen um Erinnerung“,  in dem sie plastisch in spannenden Installationen, Videos, Audios und Fotoserien, die Geschichte und Geschichten ihrer Herkunft re-konstruieren, erzählen, collagieren.

https://www.youtube.com/watch?v=SYaX8_v4AJg

Blicken wir auf den afrikanischen Kontinent, müssen wir feststellen, dass sich 90% des materiellen Kulturerbes aus dem Afrika südlich der Sahara immer noch außerhalb des afrikanischen Kontinents befinden. Die Entfernung von diesen kulturellen Bezugsobjekten hat zu einer bewussten Entfremdung und De-Kulturation der unterworfenen Völker geführt. 

Wir erinnern uns noch einmal an das Zitat von Milan Kundera: 

„Will man Völker liquidieren, (…) nimmt man ihnen zuerst das Gedächtnis. Man vernichtet ihre Bücher, ihre Bildung, ihre Geschichte. Und irgendwer schreibt ihnen andere Bücher, gibt ihnen eine andere Bildung und erfindet ihnen eine neue Geschichte. Das Volk beginnt langsam zu vergessen, was es war und was es ist. Die Welt rundum vergisst es noch schneller….“

Diese Entfremdung von der eigenen Kultur und Geschichte wird als psychologisch instabiles Erbe auf die nachfolgenden Generationen übertragen: ein trans-generationales Erbe, das keinen Nährboden für ein psychologisches Gleichgewicht schaffen kann weder für das Individuum selbst noch für die Gesellschaft, in der das Individuum lebt. Gesellschaften brauchen für ihren Zusammenhalt und ihre Einheit einen Bezug zur Vergangenheit. Die Menschen müssen wissen, woher sie kommen um sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen und sich Zukunft vorstellen zu können.

In einem Kontinent, in dem 60% der Bevölkerung unter 20 Jahre alt sind, scheint es um so wichtiger, dass die junge Generation Zugang zu ihrer eigenen Geschichte, ihrer Kultur, Kreativität und Spiritualität hat – jenseits der offiziellen – „heroischen“ – Geschichtsschreibung der alten Kolonialherren. Mit der Restitution des materiellen Kulturerbes allein ist es aber nicht getan, denn auch die persönlichen Geschichten müssen tradiert werden. Eine große Schwierigkeit dabei ist tatsächlich die orale Tradition. Es gibt kaum schriftliche Zeugnisse. Traditionell gab es in den afrikanischen Gesellschaften den sogenannten GRIOT, einen Erzähler, der verantwortlich war, Erfahrungen zu sammeln und als Genealogien und historische Narrative weiterzugeben – auch in Gesängen, damit die Erinnerung lebendig bleibt. Der GRIOT galt als weise Person, er war auch Ratgeber und Mediator bei Konflikten. Von den vielen afrikanischen Sprachen und Dialekten sind laut einer Studie bereits 201 ganz verschwunden und weitere 308 sind vom Aussterben bedroht. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Wenn eine alte Person stirbt, verbrennt eine ganze Bibliothek.“ Die Kette eigene Erfahrungen als historische Narrative weiterzugeben, ist längst unterbrochen. 

In der Ausstellung „The Struggle with Memory“ wurden Arbeiten von jungen Künstlern aus dem globalen Süden vorgestellt, die sich auf die Suche nach dem eigenen Erbe, der eigenen Geschichten machen und um „Memory“ kämpfen – ganz so wie Milan Kundera es sagt: 

Der Kampf des Menschen gegen die (politische) Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen.“  

Sie merken schon, ich werde nicht müde diese zentralen Aussagen zu wiederholen. 

Ich möchte ein Beispiel aufgreifen – ohne Audio – und den afro-brasilianischen Künstler Paulo Nazareth vorstellen. In seinen interdisziplinären Arbeiten – performative Aktionen, Video, Fotografie – beschäftigt er sich mit der Verflechtung von Kolonialismus, Sklavenhandel und deren Folgen in Brasilien und im globalen Süden. In der afrikanischen Stadt Ouidah stellte er 2013 seine Installation/Performance „L´Arbre D´Oublier (Tree of Forgetting)“ vor, die in der Ausstellung in Berlin als Video zu sehen war. Es geht hier um die Erinnerung von transatlantischer Geschichte, die auch gleichzeitig Teil von Paulo Nazareths persönlicher Geschichte ist und hier abstrakt – poetisch in einer Performance aufgearbeitet wurde.

https://en.wikipedia.org/wiki/Paulo_Nazareth

Die Hafenstadt Ouidah war ein zentraler Umschlagplatz für den transatlantischen Sklavenhandel. Hier fanden die großen Versteigerungen der Sklaven und Sklavinnen statt. Die Kolonialherren hatten sich ein besonderes Ritual ausgedacht: bevor die Sklaven auf die Schiffe kamen, wurden sie gezwungen den sogenannten „Baum des Vergessens“ zu umkreisen, um zu vergessen, woher sie kamen und was sie vorher für ein Leben geführt hatten. Die Männer mussten den Baum 9 mal umkreisen, die Frauen 7 mal und zwar im Uhrzeigersinn. Paulo Nazareth fuhr nach Ouidah und suchte den Baum. Er wickelte Fahnen verschiedener afrikanischer Staaten um den Baum und umkreiste schweigend den Baum 400 mal gegen den Uhrzeigersinn sozusagen im Rückwärtsgang. Ein lautes Schweigen. In seiner Performance spult er symbolisch die Geschichte zurück. Die Zahl 400 erinnert uns an 400 Jahre Sklavenhandel. Allein nach Brasilien wurden in der Zeit von 1501 bis 1866 etwa 4,9 Millionen Afrikaner und Afrikanerinnen verschleppt. Um diese historische Verbindung beider Kontinente aufzugreifen, wiederholte Paulo Nazareth – zurück in Brasilien – seine Aktion und suchte sich dafür einen Trompetenbaum, dessen leuchtend gelbe Blüten die Nationalblume des Landes sind. Erinnerung an eine gemeinsame transatlantische Vergangenheit wird in dieser Arbeit plastisch, poetisch, performativ sichtbar gemacht. Eine Vergangenheit, aus der so viele Identitäten hervorgegangen sind – auch seine eigene Identität: Paulo Nazareth ist afro-brasilianischer Abstammung. Um seiner eigenen Identität auf die Spur zu kommen, musste er unweigerlich den Rückwärtsgang der Erinnerung einlegen. Darüber hinaus zeigt „Tree of Forgetting“ sehr eindringlich die physische Anstrengung der Erinnerungsarbeit: Paulo Nazareth umkreist den Baum 400 mal. Wir alle haben einen Baum des Vergessens und der Erinnerung, den wir wieder und wieder umkreisen. Erinnerungsarbeit hört nie auf. Sie ist Performanz – immer im Vollzug.

Fotos

5 Struggle of memory

Ich hoffe, dass meine Überlegungen und Beispiele gezeigt haben, wie wichtig die eigenen Geschichten sind, weil sie immer Teil der historischen Geschichte sind und Zeitzeugenschaft ablegen. Das gilt m.E. sowohl für die konkrete Erzählung in den Audiobiografien, den persönlichen Hörbüchern, als auch für die künstlerische Auseinandersetzung, die abstrakte Lösungen findet. Dabei kommt der technischen Reproduzierbarkeit der menschlichen Stimme als Audiofile eine besondere Rolle zu, denn sie weist über die Existenz des Körpers des Erzählenden hinaus. Wir hören die wertvollen Geschichten der Erzählenden auch noch, wenn sie bereits verstorben sind. 

Zeitzeugnis abzulegen ist entscheidend für die Bewältigung der Gegenwart und für die potentielle Gestaltung der Zukunft. Das gelingt nur, wenn wir wissen, wer wir sind. Die Geschichten müssen erzählt werden, wir müssen ihnen zuhören und wir müssen sie weiter erzählen. Wir müssen uns immer wieder erinnern. Ein performativer Prozess als Strategie gegen das Vergessen.

Vielen Dank.