Leaking Territories//Performance von Alexandra Pirici//Skulpturprojekte Münster 2017

September 17, 2017 by Rilo
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Im großen Eingangsfoyer des historischen Rathaus trudeln erste Besucher ein. Am anderen Ende des Foyers sehe ich vier junge Frauen und zwei Männer die Treppe herunterkommen. Das müssen die Performer sein. Sie tragen Alltagsklamotten, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe wie die meisten anderen Anwesenden auch. So mischen sie sich unter das Publikum. Wirklich unterscheiden kann ich sie erst, als sie ihre Stimmen erheben: ein trauriges Lamento hallt durch den Raum: we are nowhere ….. Vorsicht! wir befinden uns auf „Leaking Territories“.

Fast wie in einer Prozession werden wir dann in den Friedenssaal geleitet.

In einer Ecke verschmelzen die 6 Performer-Körper zu einer amorphen Skulptur auf dem Boden, langsam wälzen sie sich auseinander, kommen zum Stehen und dann beginnt ein trauriges Rezital. Die Performer nehmen uns mit auf eine geopolitische Reise durch die Geschichte: Krieg, Revolution, Flucht, Freiheit und immer wieder auch Kunst bis wir zu einer analogen Google-Suchmaschine gelangen. Jeweils ein Performer zitiert ein Ereignis, dem ursprünglich – innerhalb der künstlerischen Recherche – ein Bild, eine Fotografie, eine Skulptur, ein Poem zu Grunde liegt. Wir sehen die Fotos und Abbildungen nicht. Alexandra Pirici und ihre Performer verkörpern sie uns: das abgebildete Ereignis wird re-zitiert und in Beziehung gesetzt zum Ort, an dem wir uns befinden.

Die aus aller Herren Länder kommenden Tänzer-Performer sprechen englisch. Nicht immer werden alle Besucher alles verstehen, aber die Darstellung hilft, denn gleichzeitig frieren andere Performer die Geste des Abgebildeten, das wir nicht sehen, skulptural für einen kurzen Moment ein: die Hände erhoben, zu Tode gekrümmt, elegisch einen imaginären weiten Horizont kontemplierend, eine tatsächliche Skulptur nachstellend, eine Zeitlupenbewegung vollziehend. Alexandra Pirici ist eine Meisterin dieser abstrakten Mimikry.

So gelangen wir vom Westfälischen Frieden über Caspar David Friedrich`s „Mondaufgang über dem Meer“ unter anderem zur Pariser Kommune, ins Warschauer Ghetto, zu Sol LeWitt´s „Black Form“, zum Tahir-Platz, auf chinesische Öl-Bohrinseln, den sogenannten „mobile national territories“, nach Pälestina und zu Peter Fechter, der bei einem Fluchtversuch nach Westdeutschland an der Mauer erschossen wurde, zum Maidan, zum Börsencrash von 2010, in die unendliche Weite des Universum – Neil Armstrong´s erster Schritt auf dem Mond – und schließlich ins World Wide Web.

Es ist lexikalisches Wissen, das hier re-zitiert wird – versinnbildlicht und verkörpert durch die skulpturalen und gleichzeitig fragilen Gesten der Performer. Dabei werden uns stets die Koordinaten genannt oder die Jahreszahl, damit wir wissen, welche Entfernungen uns von den anderen Orten und Ereignissen trennen und welche zeitliche Distanzen. Der Raum wird angefüllt mit einem imaginären Netz aus „time-lines“ und „space-lines“. Ich frage mich, ob es ein Spinnennetz ist….? Das Spinnennetz der Geschichte? Sind wir in diesen gesponnenen Fäden gefangen, weil sich Geschichte immer und immer und immer wiederholt?

Here we are! versichern uns die Performer.

„Leaking Territories“. Die Grenzen sind undicht. Der gesamte Raum ist Bühne, immer wieder bahnen sich die Performer ihren Weg durch das Publikum, das für einen Moment zu „displaced persons“ wird und sich eine neue Position im Raum suchen muss. Einige verlassen sogar den Ort des Geschehens. Zu nah scheint ihnen das Geschehen auf die Pelle zu rücken.

Schließlich gelangen wir zu Google: die Performer agieren als analoge, verkörperte Suchmaschine. Das Publikum wird aufgefordert einen Begriff zu nennen, der gegoogelt werden soll. Die sechs Performer stehen nun in einer Reihe an der Stirnseite des Raumes unterm Kruzifix, ganz entspannt, fast privat – reagieren spontan auf die Anfragen des Publikums und antworten nur auf ihre individuelle Allgemeinbildung gestützt.

Nach etwa 35 Minuten erheben die Performer wieder ihre Stimme – und ihr trauriger Gesang geleitet uns zurück in das Foyer. Das scheinbare Ende ist aber nur der Anfang, denn wie in einer Wiederholungsschleife vollzieht sich die Performance erneut – einem Ritual gleich – wieder und wieder und wieder …….. und wieder.

Nach mehreren Loops verlasse ich das Historische Rathaus in einer leicht melancholischen Stimmung, trete auf die Straße und bin geblendet – nicht nur von der gleissenden Sonne, sondern auch vom Münsteraner Wohlstand, der sich hier unter den schönen Arkaden am Prinzipalmarkt auf´s Vortrefflichste selbst inszeniert.

Der unbekannte Akkordeonspieler scheint unermüdlich – auch er loopt – in endlosen Improvisationen immer die gleiche Melodie …..

 

Die Skulptur Projekte Münster laufen noch bis zum 1. Oktober 2017. Die Performance „Leaking Territories“ kann man dienstags bis sonntags von 16 Uhr bis 20 Uhr erleben.

http://www.deutschlandfunk.de/mikrokosmos-003-leaking-territories.3381.de.html?dram:article_id=392978

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